Abtreibung und das Recht auf Leben (2/5)

C. Drei Positionen zur Abtreibung

1. Die liberale Position

Bei der Abtreibungsdebatte geht es im Wesentlichen um den moralischen Status des ungeborenen Kindes. Grob gesprochen hat das ungeborene Kind nach der liberalen Position keinen moralischen Status und somit kein Recht auf Leben und daher ist es moralisch erlaubt das ungeborene Kind zu töten. Weil das ungeborene Kind keinen moralischen Status hat, bedarf es bei einer Abtreibung auch keiner moralischer Rechtfertigung. Die liberale Position macht hierbei die Autonomie der Schwangeren gegenüber dem Leben des ungeborenen Kindes stark. Da das ungeborene Kind bis zu einem gewissen Zeitpunkt weder Schmerz empfindet noch ein Bewusstsein besitzt, das mit dem Bewusstsein eines älteren geborenen Kindes vergleichbar ist, kann das ungeborene Kind bei einer Abtreibung kein Opfer sein und somit ist auch nicht der illusorische Konflikt gegeben, den die konservative Position zwischen dem Lebensrecht des ungeborenen Kindes und der Autonomie der Schwangeren skizziert, da bei einer Abtreibung allein das Interesse der Schwangeren von Bedeutung ist. Eine Abtreibung kann man nach der liberalen Position moralisch mit einer Blinddarmoperation vergleichen.

Der Liberale teilt Handlungen nach der liberalen Gesellschaftstheorie, die auf Mill zurückgeht,(37) in öffentliche Handlungen, die andere verletzen, und private Handlungen, die andere nicht verletzen, ein. Der Staat ist nur für die öffentlichen Handlungen zuständig. Abtreibung ist eine private Handlung, die eine Schwangere in Vereinbarung mit ihrem Arzt und dessen Mitarbeitern vollzieht, und aus der sich der Staat so rauszuhalten hat, weil der Staat nur für die öffentlichen Handlungen, die andere verletzen, zuständig ist und die Privatsphäre so zu respektieren und zu schützen hat. Nach der liberalen Position ist die staatliche Reglementierung der Abtreibung daher nicht angebracht und wird als Eingriff in die Privatsphäre verstanden, deshalb stehen Liberale hinter einer freien Gesetzgebung in Bezug auf den Schwangerschaftsabbruch.(38)

Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass es sich bei der soeben grob beschriebenen liberalen Position genauer betrachtet um ein Spektrum verschiedener Positionen handelt, die sich zum Teil untereinander widersprechen. Diese verschiedenen liberalen Positionen unterscheiden sich zum Beispiel öfters darin, ab wann das ungeborene Kind (beziehungsweise in extremen Fällen das geborene Kind) getötet werden darf. Zum Beispiel vertritt Reinhard Merkel die Position, dass das ungeborene Kind kein Lebensrecht hat, nur eine schwache prinzipielle solidarische Provenienz als herangezogene Schutznorm ist nach Merkel gegeben, welche aber nicht stark genug ist, um Abtreibung generell moralisch zu verbieten, daher ist Abtreibung nach Merkel moralisch erlaubt.(39)

Für Judith Jarvis Thomson hängt der moralische Status des ungeborenen Kindes von dessen Status als Person ab.(40) Das ungeborene Kind ist wahrscheinlich schon vor der Geburt eine Person, doch ab wann genau das ungeborene Kind zur Person wird, lässt Thomson offen, jedenfalls ist für Thomson eine sehr frühe Abtreibung keine Tötung einer Person. Thomson argumentiert, dass selbst wenn ein Fetus ein Recht auf Leben hätte, dass der Fetus trotzdem kein Recht auf den weiteren Gebrauch des Körpers der Schwangeren zum Erhalt seines Lebens hat. Thomson lässt offen, ob es manche Fälle von Abtreibung gibt, in denen die Abtreibung ein ungerechtes Töten ist, weil das ungeborene Kind in manchen Fällen ein Recht auf den weiteren Gebrauch des Körpers der Schwangeren hat. Thomson meint, dass Abtreibung nicht moralisch unerlaubt ist, aber nicht immer moralisch erlaubt ist. Zum Beispiel darf einerseits eine Vierzehnjährige, die durch eine Vergewaltigung schwanger wurde und zudem krank sowie verzweifelt verängstigt ist, nach Thomson abtreiben. Andererseits würde eine im siebenten Monat Schwangere, die eine Abtreibung will, um eine Auslandsreise nicht verschieben zu müssen, und die bei einer derartigen Abtreibung Beteiligten moralisch anstößig handeln.

Extreme liberale Positionen vertreten Michael Tooley und Peter Singer, für welche Infantizid, also die Tötung eines Kindes, bis zu einem gewissen Zeitpunkt nach der Geburt moralisch erlaubt ist. Tooley spricht einem geborenen Kind erst ein Recht auf Leben zu, wenn das Kind ein Konzept seines kontinuierlichen Selbst entwickelt hat.(41) Für Singer ist der Wert eines Embryos oder Fetus dem eines Tieres entsprechend, das ein vergleichbares Niveau an Rationalität, Selbstbewusstsein, Fähigkeit zu Empfinden und so weiter besitzt. Ein Fetus ist nach Singer keine Person und hat so keinen Anspruch auf Leben. Da selbiges auch für ein neugeborenes Baby gilt, hat nach Singer ein neugeborenes Baby keinen Anspruch auf Leben und eine Kindstötung ist somit nicht unmoralisch.(42)

2. Die konservative Position

Nach der konservativen Position zur Abtreibung hat das ungeborene Kind einen vollen moralischen Status, der dem moralischen Status eines Erwachsenen gleicht. Daraus folgt, dass es sich bei einer Abtreibung um einen Konflikt zwischen dem Leben des ungeborenen Kindes und der Autonomie der Schwangeren handelt. Aus konservativer Sicht kann ein ungeborenes Kind verletzt werden, da eine Tötung eine Verletzung darstellt, daher hat eine Abtreibung im Gegensatz zur liberalen Position ein Opfer. Die Autonomie der Schwangeren ist zwar wichtig, aber in moralischer Hinsicht nachrangig zu dem Leben des ungeborenen Kindes, da das Leben überhaupt eine Voraussetzung ist, um Güter wie Autonomie zu besitzen, ist das Leben moralisch grundlegender und wichtiger. Wenn die Autonomie der Schwangeren im Konflikt mit dem Leben des ungeborenen Kindes steht, ist die Autonomie als geringeres Gut zu opfern. Abtreibung opfert im Gegensatz dazu eine kurze Zeit der Autonomie der Schwangeren für ein ganzes Menschenleben des Kindes. Abtreibung gebraucht Gewalt gegen ein ungeborenes Kind und überschreitet so traditionelle moralische Grenzen. Abtreibung ist nach der konservativen Position mit wenigen Ausnahmen unmoralisch und eine öffentliche, keine private, Angelegenheit. Der entscheidende Unterschied einer Abtreibung im Vergleich zur privaten sexuellen Aktivität und privaten Verhütung ist der Tod des ungeborenen Kindes. Abtreibung braucht eine moralische Rechtfertigung und diese ist in den meisten Fällen nicht gegeben. Nach der konservativen Position ist Abtreibung mit Mord zu vergleichen. Wenn dem so ist, dann ist das Grund genug Abtreibung staatlich restriktiv zu regulieren. Der Konservative gebraucht in seiner Argumentation für eine staatliche Regulierung der Abtreibung ebenfalls die soziale Theorie: Das ungeborene Kind ist ein Individuum und Abtreibung ist ein Akt der Gewalt gegen dieses Individuum. Es ist die Aufgabe des Staates Individuen vor Gewalt zu schützen, daher ist eine restriktive Gesetzgebung in Bezug auf Abtreibung zu erlassen.

Die konservative Position ist homogener als die liberale Position. Die Unterschiede innerhalb der konservativen Position sind eher in nachrangigen Details zu finden. Bekannte Vertreter der konservativen Position sind zum Beispiel Randy Alcorn, Francis J. Beckwith, William Lane Craig, Steven Crowder, Robert P. George, Kristan Hawkins, Cornelia Kaminski, Patrick Lee, Alexandra Linder, John F. MacArthur, Papst Johannes Paul II., Lila Rose, Stephen D. Schwarz und Ben Shapiro.

3. Die Position des Bundesverfassungsgerichts

Das Bundesverfassungsgericht hat sich an mehreren Stellen zum Schwangerschaftsabbruch geäußert.(43) Nach dem Bundesverfassungsgericht kommt menschlichem Leben Menschenwürde zu, auch dem ungeborenen menschlichen Leben. Das menschliche Leben ist die Voraussetzung für alle Grundrechte, darunter auch das Recht auf Leben. Dieses Lebensrecht ist unabhängig von der Annahme des Kindes durch die Schwangere. In dem Grundgesetz heißt es im zweiten Artikel: ,,Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“(44) Dieser Satz wird als ,,Bekenntnis zum grundsätzlichen Wert des Menschenlebens“(45) aufgefasst und gilt nach dem Bundesverfassungsgericht auch für ein ungeborenes Kind. Das ungeborene Kind steht somit unter dem Schutz der Verfassung und der Staat hat das ungeborene Kind zu schützen, selbst gegebenenfalls gegenüber der Schwangeren. Der Lebensschutz des ungeborenen Kindes hat für die gesamte Dauer der Schwangerschaft Vorrang gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren. Daraus ergibt sich die grundsätzliche Pflicht zur Austragung des Kindes für die Schwangere. Die Grundrechte der Schwangeren heben diese Pflicht nicht auf. Eine Abtreibung ist ein grundsätzliches Unrecht für die gesamte Dauer der Schwangerschaft und stellt eine Tötungshandlung dar, die gegen das Recht auf Leben und die körperliche Unversehrtheit des ungeborenen Kindes verstößt. ,,In der Rechtsordnung muß die Mißbilligung des Schwangerschaftsabbruchs klar zum Ausdruck kommen.“(46) Der Schwangerschaftsabbruch stellt einen Konflikt zwischen der Achtung vor dem Leben und dem Recht der Frau auf Selbstbestimmung dar und ist nicht privat, sondern hat soziale Dimension, welche eine Regelung durch den Staat erfordert, da das ungeborene Kind ein eigenes menschliches Wesen ist und so dessen Schutz in den Aufgabenbereich des Staates fällt. Ein Schwangerschaftsabbruch ist jedoch straffrei, wenn Lebensgefahr oder eine Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung für die Gesundheit der Schwangeren oder eine vergleichbare Belastung besteht. Auch eine Schädigung des Gesundheitszustandes des Kindes kann für eine Schwangere nicht zumutbar sein und daher kann in diesem Fall eine Abtreibung straffrei sein.

III. Zwei Argumente gegen Abtreibung

Im III. Teil dieser Arbeit will ich kurzgesagt zwei Argumente gegen Abtreibung vertreten, das Tötungsverbot-Argument und das Menschenwürde-Argument, diese kurz rechtfertigen und die wichtigsten Einwände gegen diese Argumente nennen und widerlegen. Ich komme nun zu dem ersten Argument, dem Tötungsverbot-Argument.

A. Das Tötungsverbot-Argument

In diesem Abschnitt über das Tötungsverbot-Argument nenne ich zuerst das Argument, gebe dann eine kurze Rechtfertigung mit verschiedenen philosophischen Traditionen für das Argument an und komme dann auf die Einwände gegen dieses Argument zu sprechen. Bei der Diskussion der Einwände gehe ich zuerst auf einen kurzen Einwand ein, der auf der Behauptung gründet, dass das ungeborene Kind kein Mensch ist, widerlege diesen kurz und komme dann auf Peter Singers Einwand mit dem Begriff ,,Mensch“ zu sprechen, dem ich dann entgegne, zuerst mit einer Entgegnung mit dem Sprachgebrauch, dann mit der Rechtfertigung der ersten Prämisse von Singers sogenannten zentralen Argument und zuletzt gebe ich vier Entgegnungen von Francis J. Beckwith gegen Singers Argumentation und gegen weitere Vertreter der sogenannten Position mit den Kriterien des Personseins wieder. Ich komme also zu dem Tötungsverbot-Argument:

1. Im Normalfall soll ein Mensch einen anderen Menschen nicht töten.

2. Bei einer Abtreibung tötet ein Mensch einen anderen Menschen.

3. Also: Im Normalfall soll ein Mensch nicht abtreiben.

1. Eine kurze Rechtfertigung des Tötungsverbot-Arguments

Ich will an dieser Stelle das Tötungsverbot-Argument kurz rechtfertigen. Das Tötungsverbot-Argument ist gültig. Die zweite Prämisse folgt direkt aus der Definition der Abtreibung oben und daher ist die zweite Prämisse wahr, wenn die Definition der Abtreibung wahr ist, was der Fall ist. Entscheidend ist daher die Diskussion der ersten Prämisse, auf die ich nun eingehen will.

In der ersten Prämisse und der Konklusion kommt die Formulierung ,,Im Normalfall“ vor, die ich kurz erklären will: Mit ,,Im Normalfall“ meine ich den gewöhnlichen Fall, in dem kein Sonderfall des Tötens vorliegt. Im Sonderfall des Tötens ist eine besondere moralische Rechtfertigung gegeben, welche die Tötung eines Menschen rechtfertigt, wie zum Beispiel im Sonderfall einer Notwehrsituation,(47) im sogenannten gerechten Krieg(48) oder den oben angesprochenen Sonderfall der Abtreibung bei Lebensgefahr für die Schwangere.(49)

Die erste Prämisse drückt ein weltweit anerkanntes moralisches Gebot aus, das sich auch aus folgenden drei Aussagen der deutschen Gesetzgebung ableiten lässt. Erstens ist die Würde des Menschen unantastbar. Zweitens hat jeder das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Drittens wird ein Mörder mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe bestraft.(50) Da die erste Prämisse weltweit anerkannt ist, begründe ich sie hier nicht ausführlich und deute nur kurz mehrere Rechtfertigungen an.

Die erste Prämisse lässt sich neben der genannten juristischen Ableitung auch mit verschiedenen philosophischen Traditionen rechtfertigen, von denen ich im Folgenden eine kurze Auswahl treffe. Die erste Prämisse lässt sich nach der deontologischen Ethik rechtfertigen, etwa weil sie sich als allgemeines Gesetz nach dem kategorischen Imperativ formulieren lässt und ihre Gegenthese in der Umsetzung als moralisches Gebot zur Minimierung oder Auslöschung der Menschheit führen würde, was kein vernünftiger Mensch wollen kann. Die erste Prämisse lässt sich weiter mit der konsequentialistischen Ethik rechtfertigen, weil im Normalfall die Konsequenzen eines Tötens schlechter sind, als die Konsequenzen eines Nicht-Tötens. Die erste Prämisse lässt sich  weiter tugendethisch rechtfertigen, weil im Normalfall der Tugendhafte nicht seinen Mitmenschen tötet. Die erste Prämisse lässt sich weiter mit dem moralischen Grundsatz ,,Neminem laede“, lateinisch für ,,Verletze niemand!“, rechtfertigen, weil eine Tötung eine Verletzung des menschlichen Körpers ist.(51) Die erste Prämisse lässt sich zuletzt mit der gebotenen Achtung der Menschenwürde rechtfertigen, weil im Normalfall die Tötung eines Menschen sich an dem gebotenen Achtungsanspruch der Menschenwürde dieses Menschen vergeht, worauf ich näher im Abschnitt über das Menschenwürde-Argument weiter unten eingehe. So viel zu der Rechtfertigung des Tötungsverbot-Arguments.

2. Diskussion der Einwände

Mary Anne Warren, die eine liberale Position vertritt, schreibt in On the Moral and Legal Status of Abortion, dass das ,,traditional antiabortion argument“, welches eine andere Formulierung des Tötungsverbot-Arguments ist, von Befürwortern der Abtreibung weder widerlegt noch geschwächt wurde.(52) Nach Warrens Wissen wurde zur Zeit der Niederschrift ihres Textes noch keine klare und überzeugende Widerlegung dieses Arguments dargelegt.(53) Warren fährt dann in ihrem Text fort und argumentiert, dass ein Fetus nicht die Kriterien einer Person erfüllt und daher kein Recht auf Leben hat und so getötet werden darf. Ich werde weiter unten bei der Diskussion von Peter Singers Practical Ethics näher auf diese Argumentation eingehen. Wie öfters bei einer derartigen Argumentation anzutreffen, ist eine unliebsame Konsequenz von Warrens Argumentation, dass neben Abtreibung auch Infantizid moralisch erlaubt ist, was gegen ihre Argumentation spricht. Ich will im Folgenden auf Einwände gegen das Tötungsverbot-Argument eingehen.

2.1 Ein kurzer Einwand: Das ungeborene Kind ist kein Mensch

Ein Einwand, der in nicht-akademischen Diskussionen über Abtreibung wiederkehrend auftaucht und den ich daher kurz erwähnen möchte, ist, dass das ungeborene Kind kein Mensch ist, sondern etwa nur ein Zellhaufen oder eine Vorstufe des Menschen und es daher moralisch erlaubt ist, das ungeborene Kind zu töten. Eine Abtreibung ist demnach mit dem Sterben der Samenzellen nach einer Ejakulation oder dem Sterben eines Eies bei der Menstruation zu vergleichen. Die Formulierung ,,einen anderen Menschen“ in der zweiten Prämisse des Arguments ist daher unwahr, weil kein Mensch, sondern nur ein Zellhaufen, bei einer Abtreibung getötet wird, woraus folgt, dass die zweite Prämisse unwahr und so die Konklusion des Arguments unwahr ist, so der Einwand.

Dieser Einwand lässt sich leicht mit wissenschaftlichen Fakten widerlegen. Wie ich schon im Überblick der menschlichen Entwicklung oben erwähnt habe und im Abschnitt über den Beginn des Menschseins weiter unten erwähnen werde, ist das ungeborene Kind aus Sicht der Wissenschaft ein Mensch, wie zum Beispiel auch die DNA des ungeborenen Kindes belegt. Damit ist dieser Einwand widerlegt.(54)

2.2 Peter Singers Einwand mit dem Begriff ,,Mensch“

Peter Singer macht in seinem Buch Practical Ethics einen Einwand wider ein zentrales Argument gegen Abtreibung, das dem Tötungsverbot-Argument sehr ähnlich ist.(55) Ich will im Folgenden dieses zentrale Argument nennen, dann Singers Einwand wiedergeben und hinterher seinen Einwand widerlegen. Das zentrale Argument, gegen das Singer schreibt, lautet wie folgt:

1. Es ist falsch einen unschuldigen Menschen zu töten.

2. Ein menschlicher Fetus ist ein unschuldiger Mensch.(56)

3. Folglich ist es falsch einen menschlichen Fetus zu töten.

Ich komme nun zu Singers Einwand und dessen Voraussetzung. Im vierten Kapitel What’s Wrong with Killing? seines Buches hat Singer sich Gedanken darüber gemacht, was ,,Mensch“ bedeutet, und diese Gedanken sind voraussetzend für seinen Einwand, den er dann im sechsten Kapitel Taking Life: The Embryo and Fetus formuliert, daher gebe ich hier kurz seine Gedanken zu dem Begriff ,,Mensch“ wieder.(57)

Was bedeutet also ,,Mensch“? Für Singer hat ,,Mensch“ zwei Bedeutungen, die sich zwar überlappen, aber nicht gleichbedeutend sind: Zum einen ist damit in einer biologischen Bedeutung ein ,,Mitglied der Spezies Homo sapiens“ gemeint und zum anderen ist damit eine Person gemeint.

Was die biologische Bedeutung von ,,Mensch“ betrifft, so lässt sich bei einem Mitglied einer Spezies wissenschaftlich bestimmen, welcher Spezies dieses Mitglied angehört, indem man die Chromosomen in den Zellen des lebenden Organismus untersucht. Bei einem Embryo lässt sich so ohne Zweifel bestimmen, dass der Embryo ab der Befruchtung zur Spezies Homo sapiens gehört und so in der biologischen Bedeutung ein Mensch ist. Das Gleiche gilt auch für behinderte Embryos  und selbst für Embryos, die sich durch eine Fehlbildung ohne Gehirn entwickeln, was Anenzephalie genannt wird.(58)

Was die zweite Bedeutung von ,,Mensch“ als Person betrifft, so folgt Singer Joseph Fletchers Auflistung der Indikatoren der Menschlichkeit, welche Indikatoren wie Selbstwahrnehmung, Selbstbeherrschung, ein Sinn für die Vergangenheit und Zukunft, Einfühlungsvermögen, Interesse an anderen, Kommunikation und Neugier beinhaltet.(59)

Die Frage, ob ein ungeborenes Kind ein Mensch ist, wird mit den zwei Bedeutungen nun unterschiedlich beantwortet: Nach der biologischen Bedeutung ist ein ungeborenes Kind ein Mensch. Nach der Bedeutung von ,,Mensch“ als Person ist ein ungeborenes Kind nicht ein Mensch, da das ungeborene Kind nicht die genannten Indikatoren der Menschlichkeit aufweist, so Singer.

Nach Singer ist der Sprachgebrauch von ,,Person“ irreführend, da ,,Person“ oft als Mensch verstanden wird, beide Bedeutungen aber nicht gleich sind. Nach dem Oxford Wörterbuch ist eine Person ein sich seiner selbst bewusstes oder rationales Wesen. Nach John Locke ist eine Person ,,a thinking intelligent being that has reason and reflection and can consider itself as itself, the same thinking thing, in different times and places“.(60) Singer gebraucht im Folgenden dann den Begriff der Person in Anlehnung an Locke und Fletcher zusammenfassend als ein rationales und ein sich seiner selbst bewusstes Wesen, welche nach Singer die zwei entscheidenden Charakteristika des Begriffs ,,Person“ ausmachen.

Die zwei genannten Bedeutungen von ,,Mensch“ gebraucht nun Singer im folgenden Einwand gegen das zentrale Argument:

,,If ‘human’ is taken as equivalent to ‘person’, the second premise of the argument, which asserts that the fetus is a human being, is clearly false; for one cannot plausibly argue that a fetus is either rational or self-conscious. If, on the other hand, ‘human’ is taken to mean no more than ‘member of the species Homo sapiens’, then the conservative defence of the life of the fetus is based on a characteristic lacking moral significance, and so the first premise is false.“(61)

Singer macht hier also einen zweiteiligen Einwand. Im ersten Teil sagt er, dass wenn man davon ausgeht, dass ,,Mensch“ in der ersten und zweiten Prämisse als Person zu verstehen ist, dann folgt daraus, dass die zweite Prämisse falsch ist, weil nach den für eine Person entscheidenden Charakteristika der Rationalität und des Selbstbewusstseins ein Fetus keine Person ist. Mit der Bedeutung der Person für ,,Mensch“ ist also ein Fetus keine Person, kein Mensch.

Im zweiten Teil seines Einwands meint Singer, dass wenn von der Bedeutung von ,,Mensch“ als ,,Mitglied der Spezies Homo sapiens“ ausgegangen wird, dass dann die erste Prämisse falsch ist, weil dann dem Menschen in der ersten Prämisse der moralische Status fehlt, da allein die Zugehörigkeit zur Spezies Homo sapiens nicht ausreichend ist, um das moralische Verbot der Tötung eines Mitglieds dieser Spezies zu rechtfertigen.


2.2.1 Entgegnung mit dem Sprachgebrauch auf Singers ersten Teil seines Einwands

Ich möchte nun im Folgenden beiden Teilen von Singers Einwand entgegnen. Zuerst also zu dem ersten Teil des Einwands: Singer gebraucht in seinem Einwand den Begriff der Person als Wahrheitskriterium, das heißt, wenn der Fetus eine Person ist, dann ist die zweite Prämisse wahr; wenn der Fetus keine Person ist, wie Singer denkt, dann ist die zweite Prämisse nicht wahr. Ich will im Folgenden aufzeigen, warum Singers Gebrauch des Begriffs ,,Person“ unangemessen ist, und daher der Einwand scheitert, indem ich den Fragen ,,Was bedeutet der Begriff ,,Person“?“ und ,,Ist der Begriff ,,Person“ als Wahrheitskriterium geeignet?“ nachgehe.

Was die Bedeutung des Begriffs ,,Person“ betrifft, so will ich kurz zuerst auf den Sprachgebrauch im Englischen und Deutschen und hinterher auf den philosophischen Sprachgebrauch eingehen. Nach Ludwig Wittgenstein ist ja die Bedeutung eines Wortes sein Gebrauch in der Sprache.(62) Nach dem englischen Sprachgebrauch bedeutet ,,person“ unter anderem ,,a human as an individual“, ,,a human, especially one who is not identified“,(63) ,,a human being“,(64) ,,a man, woman, or child“,(65) ,,A person is an individual human being.“, ,,the body of a human being, sometimes including his or her clothing“, ,,a human being or corporation recognized in law as having certain rights and obligations“, ,,a being characterized by consciousness, rationality, and a moral sense, and traditionally thought of as consisting of both a body and a mind or soul“, ,,a human being, esp. as distinguished from a thing or lower animal; individual man, woman, or child“, ,,a living human body“, ,,a self-conscious or rational being“.(66)

Nach dem deutschen Sprachgebrauch bedeutet ,,Person“ unter anderem ,,Mensch als Individuum, in seiner spezifischen Eigenart als Träger eines einheitlichen, bewussten Ichs“, ,,Persönlichkeit“ mit der Bedeutung als ,,Gesamtheit der persönlichen (charakteristischen, individuellen) Eigenschaften eines Menschen“, ,,Mensch hinsichtlich seiner äußeren, körperlichen Eigenschaften“,(67) ,,menschliches Wesen“, ,,Mensch“, ,,Einzelmensch hinsichtlich seiner äußeren und inneren Eigenschaften“, ,,Träger von Rechten und Pflichten“ ,,als einzelner Mensch“, ,,als Organisation“.(68) Nach dem Sprachgebrauch des Englischen und Deutschen bedeutet der Begriff ,,Person“ unter anderem also auch kurzgesagt Mensch und menschlicher Körper.

Für Singers Einwand ist es von fundamentaler Bedeutung zu zeigen, dass diese gewöhnlichen Bedeutungen des Sprachgebrauchs für das zentrale Argument nicht passend sind, weil mit den Bedeutungen von ,,Person“, die ,,Person“ als Mensch oder menschlicher Körper verstehen, die zweite Prämisse wahr ist, und daher der erste Teil von Singers Einwand widerlegt wäre.

Singer geht auf den Sprachgebrauch kurz ein:

,,This use of ‘person’ is itself, unfortunately, liable to mislead, because ‘person’ is often used

as if it meant the same as ‘human being’. Yet the terms are not equivalent; there could be a

person who is not a member of our species. There could also be members of our species who

are not persons.“(69)

Nach Singer haftet also diesem Sprachgebrauch etwas irreführendes an, da seiner Meinung nach ,,Person“ und ,,Mensch“ nicht gleichbedeutend sind, da es eine Person geben könnte, die nicht ein Mitglied unserer Spezies ist, und es ebenfalls Mitglieder unserer Spezies geben könnte, die keine Personen sind.

Diese Begründung Singers weist mindestens zwei Probleme auf: Zum einen setzt diese Begründung ein Verständnis von Person voraus, das Singer eigentlich zu begründen sucht. Singer argumentiert also im Kreis mit einem Zirkelschluss. Beide Teile seiner Begründung sind zum Beispiel ausgeschlossen, wenn eine Person mit einem Menschen gleichzusetzen ist, wie im gewöhnlichen Sprachgebrauch. Der zweite Teil seiner Begründung setzt voraus, dass es möglich sein kann, dass ein Mensch keine Person ist, wie das ja Singer für einen Embryo, Fetus und geborenes Kind durch sein Verständnis des Begriffs ,,Person“ mit den zwei entscheidenden Charakteristika der Person behauptet, da ja die Genannten nach Singer zwar Menschen sind, aber eben keine Personen. Mit anderen Worten: Es kann nur ein Mitglied unserer Spezies geben, das keine Person ist, wenn man die gewöhnliche Bedeutung des Sprachgebrauchs verwirft, dass eine Person ein Mensch oder menschlicher Körper ist, und zudem ein Verständnis von Person vertritt, das Singers Verständnis gleicht oder im Wesentlichen ähnlich ist, also dass ein Mensch nicht gleich einer Person ist, was Singer ja zu begründen sucht.

Zugegeben, wenn zum Beispiel ein uns Menschen ähnlicher Außerirdischer uns begegnen würde, dann würden wir diesen wohl sprachlich als Person bezeichnen, womit wir einen realen Nicht-Menschen als Person bezeichnen würden, und somit unseren Sprachgebrauch auf diesen Außerirdischen als Person erweitern. Es ist aber eben auch möglich, dass eine derartige Begegnung nie stattfindet und somit der Sprachgebrauch nie so erweitert wird. Wir gehen aber in der Diskussion des Begriffs ,,Person“ vom aktuellen Sprachgebrauch aus und nicht von einem unsicheren zukünftigen Sprachgebrauch und nach dem aktuellen Sprachgebrauch ist in mehreren Bedeutungen ,,Person“ als Mensch oder menschlicher Körper zu verstehen, daher ist Singers Begründung ungenügend.

Das zweite Problem mit Singers Begründung ist, dass selbst wenn der Begriff ,,Person“ nicht gleichbedeutend mit Mensch wäre und damit auch daneben noch einen Nicht-Mensch (oder Außerirdischen) beschreibt, wie Singer begründet, dann müsste Singer noch für seinen Einwand zeigen, dass Singers Verständnis von Person angemessen und daneben die Bedeutung als Mensch nicht angemessen ist, was Singer nicht zeigt. Singer betreibt also Rosinenpickerei und ignoriert die Bedeutungen von ,,Person“, die seinen Einwand widerlegen und wählt willkürlich ein Verständnis von ,,Person“ aus, das seinem Einwand dient. Diese Auswahl der Bedeutung Singers bedarf einer besseren Begründung, als diejenige, die Singer oben gibt, ansonsten bleibt diese Auswahl der Bedeutung von ,,Person“ einfach Singers unbegründete Meinung, der ein Konservativer einfach mit folgender Meinung entgegnen kann: ,,‚Person‘ ist nach meiner Meinung und dem gewöhnlichen Sprachgebrauch als Mensch zu verstehen, der Fetus ist aus wissenschaftlicher Sicht ein Mensch, also ist die zweite Prämisse wahr und so das zentrale Argument gültig.“

Ein Blick in den philosophischen Sprachgebrauch macht recht schnell deutlich, dass auch hier der Begriff ,,Person“ nicht so eindeutig ist, wie Singer das zu suggerieren scheint. Nach Eric T. Olson gibt es mindestens drei philosophische Verständnisse von ,,Person“: Erstens bedeutet es eine Person zu sein, gewisse mentale Eigenschaften zu besitzen. Zweitens schlagen andere vor, dass es eine weniger direkte Verbindung zwischen dem Personsein und den mentalen Eigenschaften gibt, etwa dass eine Person zu sein bedeutet, fähig zu sein, diese mentalen Eigenschaften zu entwickeln. Drittens ist jemand eine Person, wenn dieser ein Mitglied einer Art ist, die gewöhnlich diese mentalen Eigenschaften besitzt, wenn ein Mitglied gesund und erwachsen ist.(70)

In dem Philosophielexikon von Anton Hügli und Poul Lübcke heißt es:

,,Wo die Grenze zwischen P., Quasi-P. und nicht-personalem Seiendem* gezogen werden

muss, ist kontrovers (z.B. ob ein Fötus als Kind, Quasi-P. oder Lebewesen zu betrachten ist).

Insbesondere ist strittig, ob die Grenzziehung von rein ontologischen* oder rein normativen

Kriterien* abhängt oder evtl. von einer Verbindung von beiden. Die Befürworter

vorwiegend normativer Kriterien verweisen darauf, dass der Begriff P. in der alltäglichen

und juristischen Zuteilung von Rechten und Pflichten seinen Ursprung hat. Die Fürsprecher

vorwiegend ontologischer Kriterien verweisen darauf, dass die normativen Abgrenzungen

eine Reihe ontologischer Grundunterscheidungen voraussetzen müssen, wenn sie nicht

willkürlich* verlaufen sollen.“(71)

Nach dem philosophischen Sprachgebrauch von ,,Person“ ist also ,,Person“ nicht eindeutig, kontrovers und kann verschiedene Bedeutungen haben, die sich zum Teil widersprechen können.

Zusammenfassend beinhaltet der englische und deutsche Sprachgebrauch Bedeutungen von ,,Person“, welche Singers Einwand nichtig machen. Singer müsste für seinen Einwand überzeugend argumentieren, warum diese Bedeutungen für die zweite Prämisse unpassend und seine Bedeutung des Begriffs passend ist, was Singer nicht leistet. Philosophisch ist ,,Person“ kein klarer und eindeutiger Begriff. Weil ,,Person“ nicht klar und eindeutig ist, eignet sich dieser Begriff nicht als Wahrheitskriterium für die zweite Prämisse. Zum Beispiel wäre nach Olson mit dem ersten philosophischen Verständnis ein Fetus keine Person, mit dem zweiten und dritten philosophischen Verständnis wäre der Fetus aber eine Person, also stehen diese philosophischen Verständnisse diesbezüglich im Widerspruch. Mit dem ersten Verständnis wäre die zweite Prämisse unwahr, mit dem zweiten und dritten Verständnis wahr. Es müsste für Singers Einwand daher überzeugend argumentiert werden, dass das erste philosophische Verständnis wahr und die anderen beiden unwahr sind, was Singer nicht leistet. Der Begriff ,,Person“ ist daher als Wahrheitskriterium ungenügend und Singers erster Teil seines Einwands so widerlegt.

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