Abtreibung und das Recht auf Leben (3/5)

2.2.2 Entgegnung mit der Rechtfertigung der ersten Prämisse auf Singers zweiten Teil seines Einwands

Ich wiederhole nun kurz Singers zweiten Teil seines Einwands und widerlege diesen dann hinterher. Singer versteht die erste Prämisse so, dass die erste Prämisse dadurch gerechtfertigt wird, dass unter der Voraussetzung, dass ,,Mensch“ dort als ,,Mitglied der Spezies Homo sapiens“ zu verstehen ist, diese Mitgliedschaft zur Spezies Homo sapiens allein das Töten von Menschen dort moralisch falsch macht. Nach Singer kann aber die Mitgliedschaft zur Spezies Homo sapiens eines Mitglieds allein das Töten dieses Mitglieds nicht moralisch falsch machen, weil diese Mitgliedschaft keine moralische Relevanz hat, und somit ein moralisches Tötungsverbot nicht rechtfertigen kann. Daher ist nach Singer die erste Prämisse mit ,,Mensch“ als ,,Mitglied der Spezies Homo sapiens“ verstanden falsch, so Singers zweiter Teil seines Einwands.

Ich komme nun zur Widerlegung. Singer hätte mit seinem Einwand recht, wenn die erste Prämisse allein durch diese Mitgliedschaft gerechtfertigt wäre. Das ist aber nicht der Fall und daher irrt sich Singer mit seinem Verständnis der Rechtfertigung der ersten Prämisse.(72) Wie ich weiter oben bei der Rechtfertigung des Tötungsverbot-Arguments angeführt habe, lässt sich die erste Prämisse, die der ersten Prämisse des zentralen Arguments sehr ähnlich ist, mit verschiedenen philosophischen Traditionen rechtfertigen.

Ich will hier exemplarisch eine kurze Rechtfertigung der ersten Prämissen der beiden Argumente mit dem moralischen Grundsatz ,,Verletze niemand!“ darlegen: Wenn im Normalfall ,,Verletze niemand!“ gilt und ,,Verletze niemand!“ gleichbedeutend mit ,,Ein Mensch soll einen anderen Menschen nicht verletzen.“ ist und ein Töten ein Verletzen ist, dann folgt ,,Im Normalfall soll ein Mensch einen anderen Menschen nicht töten.“, was der ersten Prämisse des Tötungsverbot-Arguments entspricht. Wenn man nun zusätzlich davon ausgeht, dass die erste Prämisse des zentralen Arguments im Kontext ungenannt vom Normalfall spricht und ein unschuldiger Mensch ein Spezialfall eines allgemeinen Menschen ist und durch ,,Verletze niemand!“ die Übertretung dieses moralischen Grundsatzes moralisch falsch ist, dann folgt die erste Prämisse des zentralen Arguments mit ,,Es ist falsch einen unschuldigen Menschen zu töten.“.

Mit ,,Verletze niemand!“ und den genannten Annahmen folgt also für alle Menschen, die ein ,,Mitglied der Spezies Homo sapiens“ sind, die erste Prämisse beider Argumente. Entscheidend für den Anwendungsbereich von ,,Verletze niemand!“ oder der ersten Prämisse ist nun, ob das Subjekt und Objekt dieser beiden moralischen Aussagen jeweils ein Mensch, also ein ,,Mitglied der Spezies Homo sapiens“, ist, oder nicht, weil nur auf einen Menschen als Subjekt und auf einen Menschen als Objekt die Aussagen angewendet wird, und daher ist die Mitgliedschaft für diese moralischen Aussagen moralisch entscheidend, nicht allein wegen ihrer biologischen Mitgliedschaft, sondern in Kombination mit dem moralischen Grundsatz ,,Verletze niemand!“ und den weiteren Annahmen. Die Rechtfertigung der ersten Prämisse erfolgt also nicht allein, wie von Singer behauptet, aus der Mitgliedschaft zur Spezies Homo sapiens, sondern zum Beispiel mit den Annahmen und mit ,,Verletze niemand!“ und mit der dafür entscheidenden Mitgliedschaft zur Spezies Homo sapiens. In einer vergleichbaren Weise würden auch die angesprochenen Rechtfertigungen mit den anderen philosophischen Traditionen funktionieren. Damit ist der zweite Teil von Singers Einwand widerlegt, weil die Rechtfertigung der ersten Prämisse nicht allein auf der Mitgliedschaft zur Spezies Homo sapiens beruht.

2.2.3 Francis J. Beckwiths vier Entgegnungen auf Singers Argumentation und auf weitere Vertreter der Position mit den Kriterien des Personseins

Singers Argumentation für die moralische Erlaubtheit der Tötung eines Fetus lässt sich wie folgt grob rekonstruieren:

1. Es gibt Kriterien für eine Person.(73)

2. Ein Fetus ist nach den Kriterien für eine Person keine Person, eine Nicht-Person.

3. Eine Nicht-Person darf getötet werden.

4. Ein Fetus darf getötet werden.(74)

Singer ist nicht der einzige, der eine derartige Argumentation vertritt. Nach Francis J. Beckwith vertritt diese Argumentation ebenfalls Michael Tooley, Mary Anne Warren, James Rachels und Virginia Ramey Mollenkott,(75) wobei Beckwith die Position dieser Vertreter zusammenfassend als ,,personhood criteria position“ bezeichnet, die ich im Folgenden als Position mit den Kriterien des Personseins nenne.(76) Beckwith entgegnet dieser Position mit mehreren Entgegnungen, von denen ich an dieser Stelle die vier wichtigsten Entgegnungen behandeln möchte. Verkürzt dargestellt lauten die vier Entgegnungen Beckwiths wie folgt: Erstens könnte Abtreibung auch moralisch falsch sein, wenn der Fetus keine Person wäre. Zweitens ist dasjenige, was ein Töten moralisch falsch macht, ebenfalls bei einer Abtreibung unabhängig von dem Status als Person oder Nicht-Person gegeben, nämlich dass einem Menschen sein zukünftiges Menschenleben genommen wird. Drittens verwechselt obige Argumentation in der Definition einer Person die Funktionen eines Wesens mit dem Sein eines Wesens. Viertens geht das Sein der Person den Funktionen der Person voraus und somit können diese Funktionen nicht notwendige Bedingungen für das Sein der Person sein. Ich komme nun zu Beckwiths ersten Entgegnung.

Beckwiths erste Entgegnung ist, dass Abtreibung auch moralisch falsch sein könnte, wenn der Fetus keine Person wäre.(77) Demnach würde aus dem Status einer Nicht-Person nicht automatisch folgen, dass eine Nicht-Person getötet werden darf. Beckwith zitiert Jane English, welche ausführt, dass Nicht-Personen in unseren moralischen Überlegungen berücksichtigt werden, obwohl sie natürlich nicht den selben Status wie eine Person haben, und obwohl ihre Interessen von Personen überschrieben werden können. Trotzdem dürfen Personen nicht beliebig mit Nicht-Personen verfahren. English meint, dass es moralisch falsch ist, Nicht-Personen zu foltern, wobei English das Beispiel von Hunden und Vögeln als Nicht-Personen nennt, bei denen wir es für moralisch falsch halten, diese zu foltern, obwohl diese nicht den gleichen Status oder das gleiche Recht wie Personen haben.(78) Beckwith betont, dass selbst bei der Annahme, dass der Fetus keine Person wäre, der Fetus zumindest eine potentielle Person wäre, was den Fetus von anderen Nicht-Personen, wie etwa den Tieren, unterscheiden würde. Auch wenn es nicht leicht zu sein scheint, zu entscheiden, was genau in Bezug auf Nicht-Personen moralisch erlaubt und nicht erlaubt ist, so scheinen die Beispiele mit den Tieren nahezulegen, dass eine Nicht-Person nicht automatisch getötet werden darf, weil sie eine Nicht-Person ist. Wenn dem so ist, dann ist es für Vertreter der Position mit den Kriterien des Personseins nicht ausreichend zu zeigen, dass eine behauptete Nicht-Person keine Person nach den vertretenen Kriterien ist, sondern diese Vertreter sollten daneben eine moralische Rechtfertigung geben können, warum die Nicht-Person dann getötet werden darf, was diese Vertreter unterlassen. Mit anderen Worten: Vertretern der Position mit den Kriterien des Personseins fehlt es an einer moralischen Rechtfertigung für die dritte Prämisse in Singers Argumentation und diese versteht sich nicht von selbst.

Sehr deutlich wird das Problem mit der dritten Prämisse, ihrer Rechtfertigung und Singers Argumentation generell bei Joseph Fletcher, über den Randy Alcorn schreibt und auf den schon weiter oben Singer verwies.(79) Nach Fletcher ist ein Individuum nicht eine Person, wenn das Individuum nicht folgende Kriterien erfüllt: Wenn es einen IQ von mindestens 40 hat, sich seiner selbst bewusst ist, Selbstkontrolle, Zeitempfinden und Empathie besitzt. Nach Fletchers Kriterien sind zum Beispiel ein Mensch mit einem IQ von 39, Komatöse und Schlafende keine Personen, also Nicht-Personen, und dürften so nach der dritten Prämisse und Singers Argumentation, wenn man für ,,Ein Fetus“ die Genannten einsetzt, getötet werden. Das steht jedoch im Widerspruch zum moralischen Konsens, dass die Genannten nicht getötet werden dürfen. Dieser Widerspruch widerlegt so die Argumentation mit Fletchers und vergleichbaren Kriterien und so ebenfalls Singers Argumentation.

Aber nun zurück zu Beckwith und seiner zweiten Entgegnung:(80) Beckwiths zweite Entgegnung folgt der Argumentation von Don Marquis(81) und entgegnet, dass wenn man davon ausgeht, dass der Grund dafür, dass das Töten eines Menschen moralisch falsch ist, darin liegt, dass diesem Menschen sein zukünftiges Menschenleben durch die Tötung genommen wird, was als sehr naheliegende Grundannahme erscheint, dann ist die Abtreibung selbst einer menschlichen Nicht-Person moralisch falsch, da auch einer menschlichen Nicht-Person durch die Abtreibung das zukünftige Menschenleben genommen wird. Da also das Töten einer Person und Nicht-Person mit einem zukünftigen Menschenleben moralisch falsch ist, ist die moralische Falschheit unabhängig von den Kriterien des Personseins und damit ist die Position mit den Kriterien des Personseins sowie Singers Argumentation in der dritten Prämisse unwahr, weil selbst unter den Voraussetzungen der ersten beiden Prämissen entgegen der dritten Prämisse eine menschliche Nicht-Person nicht getötet werden darf.

Weiter kritisiert Don Marquis die Position mit den Kriterien des Personseins dafür, dass ein Säugling und ein junges Kind ebenfalls neben einem ungeborenem Kind manche Kriterien des Personseins nicht erfüllen und somit nach dieser Position das Töten eines Säuglings und eines jungen Kindes, also Kindsmord, moralisch erlaubt ist. Für die meisten Menschen ist aber das Töten eines Säuglings und eines jungen Kindes moralisch falsch, daher bedarf es nach Marquis einer besseren moralischen Theorie, welche dieser moralischen Ansicht der meisten Menschen entspricht. Marquis schlägt eine bessere moralische Theorie vor, indem er sagt, dass die primäre Eigenschaft, die das Töten eines Säuglings und jungen Kindes moralisch falsch macht, der Verlust der Zukunft des Opfers ist. Da der Verlust der Zukunft des Opfers bei Erwachsenen, jungen Kindern, Säuglingen und eben auch bei ungeborenen Kindern gegeben ist, macht dieser Verlust das Töten der Genannten moralisch falsch, also damit auch eine Abtreibung von ungeborenen Kindern.

Bevor ich auf Beckwiths dritte Entgegnung zu sprechen komme, möchte ich noch kurz auf einen Einwand gegen Marquis’ Argumentation eingehen. Man kann Marquis wie folgt entgegnen: Bei einer Tötung wird, entgegen Marquis’ Ansicht, einem Opfer nicht das zukünftige Menschenleben genommen, weil die Zukunft im Moment der Tötung nicht existiert, daher kann das Opfer auch nicht verlieren, was es nicht besitzt oder beziehungsweise was nicht existiert, daher scheitert Marquis’ Argumentation, weil die Tötung nicht dem Opfer ein zukünftiges Menschenleben nimmt, weil das zukünftige Menschenleben in der Gegenwart nicht existiert, sondern nur in der Zukunft, die in der Folge der Tötung dann aber nie existieren wird.

Diesem Einwand liegt eine Perspektive aus der Gegenwart mit der Unwissenheit der Zukunft zugrunde und wird leicht widerlegt, wenn man unter den vernünftigen Voraussetzungen der Gleichförmigkeit der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowie den kausalen Zusammenhängen von Ereignissen in der Zeit ein Menschenleben in der Vergangenheit betrachtet.

Nehmen wir das einflussreiche Menschenleben von Steve Jobs als Beispiel, der vom 24. Februar 1955 bis zum 5. Oktober 2011 lebte.(82) Wir wissen heute, dass wenn Jobs im Jahre 1954 oder 1955 abgetrieben worden wäre, dass sein zukünftiges Menschenleben nicht stattgefunden hätte; das aber in der Vergangenheit stattfand und Jobs somit hatte, also etwa die Gründung von Apple Inc. 1976, seine Liebe, seine Leidenschaft und seine wundervolle Familie, wie er sie selbst beschrieb,(83) weil Jobs’ Menschenleben seine Geburt und seine Existenz kausal voraussetzte, die durch eine Abtreibung nicht gegeben wäre. Da wir nun dies wissen und die Vergangenheit von 1954 - 2011 wie angenommen gleichförmig mit der Gegenwart ist, können wir davon ausgehen, dass die Menschen, deren Leben nicht vorzeitig beendet werden, ein zukünftiges Menschenleben in der Gegenwart haben, auch wenn wir die Zukunft nicht kennen, wie auch Jobs ein zukünftiges Menschenleben ab der Befruchtung im Jahre 1954 hatte, obwohl kein Mensch damals seine Zukunft kannte. Wir können also verkürzt sagen: Jobs mit Abtreibung hätte kein zukünftiges Leben gehabt. Jobs ohne Abtreibung hat ein zukünftiges Leben gehabt. Also hätte eine Abtreibung Jobs das zukünftige Leben genommen. Was für Jobs damals galt, gilt auch für Menschen der Gegenwart, weil Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichförmig sind. Um es mit anderen Worten zu sagen: Die Zukunft hängt kausal und temporal von der Gegenwart ab. Wer jemanden in der Gegenwart tötet, nimmt dem Opfer die von der Gegenwart kausal und temporal abhängige Zukunft.(84)

Nun aber zurück zu Beckwith und seiner dritten Entgegnung:(85) Vertreter der Position mit den Kriterien des Personseins verwechseln die Funktion einer Person mit dem Sein einer Person. Diese Vertreter gebrauchen funktionale Definitionen einer Person um eine Person zu definieren, das heißt, eine Person wird über die Funktionen der Person bestimmt. Erfüllt ein Wesen die erforderlichen Funktionen, so ist das Wesen als Person bestimmt; wenn nicht, so ist das Wesen eine Nicht-Person, so diese Vertreter.

Das grundlegende Problem mit funktionalen Definitionen ist, dass ein Wesen weiterhin ein Wesen sein kann, wenn es eben nicht bestimmte Funktionen hat. Es ist daher besser ein Wesen direkt über das Sein des Wesens und nicht über die Funktionen des Wesens zu definieren. Beckwith gibt das Beispiel von Michael Jordan, der seine Frau küsst. Ist Michael Jordan kein Basketballspieler, während er nicht die Funktion eines Basketballspielers hat und seine Frau küsst? Die offensichtliche Antwort lautet: Nein, Michael Jordan ist ein Basketballspieler und wird nicht erst zum Basketballspieler, wenn er die Funktion eines Basketballspielers hat, sondern Michael Jordan kann die Funktion eines Basketballspielers haben, weil Michael Jordan ein Basketballspieler ist. Analog dazu kann ein Wesen eine Person sein, wenn es momentan nicht die gewöhnlichen Funktionen einer Person hat. Es ist anerkannt, dass Schlafende, Bewusstlose und befristet Komatöse trotz ihres Verlustes an Funktionen, die wir gewöhnlich einer Person zuschreiben, Personen sind. Analog dazu sind nach Beckwith auch junge Kinder, Neugeborene und Ungeborene Personen, weil das Personsein sich nicht allein auf die Funktionen der Person, sondern auf das Sein der Person, gründet. Die Funktionen einer Person sind demnach nicht notwendige Bedingungen einer Person, sondern entstehen aus dem Sein der Person, das so die Voraussetzung für die Funktionen der Person ist. Beckwith argumentiert, dass wenn wir davon ausgehen, dass Schlafende, Bewusstlose und befristet Komatöse Personen sind, eine funktionale Definition dem aber widerspricht, weil die Genannten nicht gewisse Funktionen einer Person haben, dann ist die funktionale Definition einer Person nicht nützlich und zu verwerfen, weil sie fälschlicherweise Schlafende, Bewusstlose und befristet Komatöse nicht als Personen bestimmt.

Bei Beckwiths vierten Entgegnung argumentiert Beckwith in einer ähnlichen Weise mit dem Beispiel einer Person, welche eine Funktion einer Person zuerst hat, dann nicht hat und hinterher wieder hat, dafür, dass das Personsein der Funktion einer Person vorausgeht und so die Funktionen nicht notwendig für das Personsein sind.(86) Vertreter der Position mit den Kriterien des Personseins behaupten, dass eine Person eine Funktion haben kann, eine Nicht-Person wird, wenn sie diese Funktion nicht mehr hat, und dann wieder eine Person wird, wenn sie diese Funktion wieder hat. Zum Beispiel verliert eine Person, welche sich schlafen legt, im Schlaf mehrere Funktionen einer Person, etwa das Selbstbewusstsein. Ein Schlafender ist so nach der Ansicht dieser Vertreter, während er schläft, keine Person und wenn der Schlafende aufwacht und sein Selbstbewusstsein wieder erlangt, wieder eine Person.

Es bedarf nun nach Beckwith aber einer personellen Einheit, welche dieser Person mit wechselnden Funktionen unterliegt, weil wir sonst nicht die Person vor dem Verlust der Funktion und die Person nach der Wiedergewinnung der Funktion als gleiche Person identifizieren könnten. Die Ansicht, dass eine neue Person nach der Wiedergewinnung der Funktion entstanden ist, ist absurd. Da diese personelle Einheit unabhängig von der Funktion gegeben sein muss, zeigt dieser Umstand, dass die Funktion nicht die notwendige Bedingung für das Personsein eines Menschen sein kann. Es macht also in der Folge dieser Überlegung keinen Sinn zu sagen, dass eine Person durch eine oder mehrere Funktionen allein entsteht, aber es macht eben Sinn anzunehmen, dass eine Person eine Entität ist, welche von Natur aus die innewohnende Fähigkeit besitzt, menschliche Funktionen zu entwickeln. Letzteres gilt auch für ungeborene Kinder und demnach ist ein ungeborenes Kind so verstanden ebenfalls eine Person.

Beckwith zitiert John Jefferson Davis und Stephen D. Schwarz, die beide ebenfalls entgegen den Vertretern der Position mit den Kriterien des Personseins betonen, dass das Personsein den Funktionen vorausgeht und somit die Funktionen nicht notwendig für das Personsein sind.(87) Davis schreibt: ,,Our ability to have conscious experiences and recollections arises out of our personhood; the basic metaphysical reality of personhood precedes the unfolding of the conscious abilities inherent in it.“ Schwarz schreibt: ,,It is being a person that is crucial morally, not functioning as a person. The very existence and meaning of functioning as a person can have its basis only in the being of a person.“

Mit diesen Entgegnungen ist Singers Argumentation und generell die Argumentation der Vertreter der Position mit den Kriterien des Personseins widerlegt, wozu auch die für die liberale Position wichtigen Texte von Michael Tooley und Mary Anne Warren gehören.(88)

B. Das Menschenwürde-Argument

In diesem Abschnitt über das Menschenwürde-Argument möchte ich zuerst das Menschenwürde-Argument nennen, dann eine kurze Rechtfertigung dieses Arguments geben, dann auf Reinhard Merkels Einwand mit dem Sein-Sollen-Fehlschluss gegen das Speziesargument zu sprechen kommen und diesem Einwand entgegnen, dann auf einen erneuten Einwand mit der Grundlage der Menschenwürde eingehen und entgegnen, und zuletzt ein Problem mit dem Sein-Sollen-Fehlschluss für liberale Positionen aufzeigen. Es folgt also das Menschenwürde-Argument:

1. Menschen haben Menschenwürde.

2. Ein ungeborenes Kind ist ein Mensch.

3. Ein ungeborenes Kind hat Menschenwürde.

4. Ein Mensch soll nicht gegen die Menschenwürde handeln.

5. Wer im Normalfall abtreibt, handelt gegen die Menschenwürde.

6. Also: Ein Mensch soll im Normalfall nicht abtreiben.

1. Eine kurze Rechtfertigung des Menschenwürde-Arguments

Ich möchte nun kurz das Menschenwürde-Argument rechtfertigen. Das Menschenwürde-Argument ist gültig. Die erste Prämisse folgt aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und dem Grundgesetz, auf die ich weiter unten detaillierter eingehen werde. Die zweite Prämisse basiert auf wissenschaftlichen Fakten, auf die ich im Abschnitt Überblick der menschlichen Entwicklung oben und im folgenden Abschnitt über den Begriff ,,Embryo“ und den Beginn des Menschseins weiter unten verweise. Die dritte Prämisse folgt aus der ersten und zweiten Prämisse. Die vierte Prämisse folgt aus dem Begriff der Menschenwürde beziehungsweise aus dem Begriff der Würde.(89)

Die fünfte Prämisse folgt aus mehreren Annahmen. Nach obiger Definition und der Praxis der Abtreibung beinhaltet im Normalfall eine Abtreibung ein aktives Töten eines Menschen. Wer einen Menschen im Normalfall tötet, achtet nicht dessen Menschenwürde, also dessen ,,Achtung gebietenden Wert“, und handelt so gegen die Menschenwürde dieses Menschen. Weiter lässt sich die fünfte Prämisse auch über das Recht auf Leben, das aus der Menschenwürde folgt, oder die Unantastbarkeit der Menschenwürde, die aus dem Begriff der Menschenwürde folgt, begründen, da im Normalfall eine Abtreibung durch die Tötung ein Handeln gegen das Recht auf Leben und ein Vergehen am Achtungsanspruch der Menschenwürde ist.

2. Diskussion der Einwände

Das Menschenwürde-Argument ist eine ausführlichere Formulierung des sogenannten Speziesarguments. Es wurden bereits mehrere Einwände gegen das Speziesargument in der Literatur vorgebracht. Ich will mich im Folgenden mit zwei Einwänden gegen das Speziesargument auseinandersetzen. Im ersten Teil dieser Auseinandersetzung möchte ich auf einen Einwand des deutschen Rechtsphilosophen Reinhard Merkel eingehen, der in dem Text Zum normativen Status des Embryos und zum Schutz der Ethik gegen ihre biologistische Degradierung(90) gekonnt seine Einwände gegen das Speziesargument formuliert. Im zweiten Teil will ich dann auf einen weiteren Einwand eingehen, der sich auf die Grundlage der Menschenwürde konzentriert. Es folgt der erste Teil.

2.1 Reinhard Merkels Einwand mit dem Sein-Sollen-Fehlschluss

Ich komme nun auf das Speziesargument und Merkels Einwand mit dem Sein-Sollen-Fehlschluss zu sprechen. Bevor ich auf Merkels Einwand eingehe, werde ich noch kurz das Speziesargument nennen, auf das sich Merkel bezieht, um Verwechslungen zwischen den Argumenten zu vermeiden, und dann Merkels Verständnis des Speziesarguments kurz darlegen. Hier ist also das Speziesargument:(91)

1. Jedes Mitglied der Spezies Mensch hat Würde und daher ein Recht auf Leben.

2. Jeder menschliche Embryo ist Mitglied der Spezies Mensch.

   Also: 3. Jeder menschliche Embryo hat Würde und daher ein Recht auf Leben.

Ich möchte nun Merkels Verständnis des Speziesarguments kurz darlegen. Wie versteht Merkel also das Speziesargument? Merkel fasst sein Verständnis kurz zusammen:

,,Der Schutz des Tötungsverbots in Gestalt eines genuinen moralischen Rechts müsse für

den Embryo schon deshalb gelten, weil er biologisch der Spezies Homo sapiens sapiens

angehöre. Da alle geborenen Angehörigen dieser Spezies zweifellos ein Grundrecht auf

Leben haben, gebiete das Prinzip der Gleichbehandlung den gleichen Schutz des

Embryos.“(92)

Vorweg kurz zu den Begrifflichkeiten: Mit ,,genuin moralisches Recht“ meint Merkel das genuin subjektive Recht moralischer Natur, wobei sich diese Formulierung nach Merkel an den Begriff des juridischen Rechts anlehnt, nach dem das Recht ,,vom moralisch-sittlichen Standpunkt aus hergeleitet“ wird.(93) Merkel meint damit, dass der Embryo aus rechtlicher Sicht schon und allein um seiner selbst willen zu schützen geboten ist, und mit ,,genuin“ meint er, dass dieser gebotene Schutz moralisch zwingend ist.(94) Mit ,,Homo sapiens sapiens“ meint Merkel die durch biologische Systematik näherbestimmte Beschreibung der Spezies Mensch. ,,Homo“, lateinisch für ,,Mensch“, bezeichnet die Gattung und ,,sapiens“, lateinisch für ,,vernunftbegabt“, bezeichnet zuerst die Art und dann die Unterart.(95)

Für Merkel ist das Speziesargument also so zu verstehen, dass erwachsene Mitglieder der Spezies Homo sapiens sapiens aufgrund des Prinzips der Gleichbehandlung in gleicher Weise zu behandeln sind, wie sehr junge Mitglieder der gleichen Spezies, genannt Embryonen. Da nun die Erwachsenen ein unbezweifeltes Grundrecht auf Leben haben, haben die Embryonen in gleicher Weise dieses Grundrecht auf Leben.

Dem Speziesargument liegt nach Merkel also das normative Gebot der Gleichbehandlung zugrunde, wodurch sich die Norm des Lebensrechts des Embryos aber allein nicht ableiten lässt, wozu hinzukommend zuerst noch zu zeigen wäre, dass es sich beim Erwachsenen und dem Embryo um ein normativ Gleiches handelt. Diese normative Gleichheit ist jedoch umstritten und die normative Gleichheit zu zeigen obliegt so nach Merkel den Befürwortern des Speziesarguments.

2.1.1 Merkels Einwand

Ich komme nun zu Merkels zentralen Einwand: Das Speziesargument beruht auf einem Sein-Sollen-Fehlschluss von der biologischen Beschaffenheit des Embryos auf das Lebensrecht des Embryos und ist daher ungültig.

Was meint Merkel mit dem Sein-Sollen-Fehlschluss? Ein Sein-Sollen-Fehlschluss, auch Sein-Sollen-Dichotomie oder Humesches Gesetz genannt,(96) liegt vor, wenn unzulässig von deskriptiven Aussagen auf präskriptive Aussagen geschlossen wird; anders formuliert: wenn von faktischen Aussagen über das Sein auf normative Aussagen über das Sollen falsch geschlossen wird, daher der Name ,,Sein-Sollen-Fehlschluss“. Um aber von einer faktischen Aussage auf eine normative Aussage zu schließen, bedarf es einer hinzukommenden normativen Prämisse, die beim Sein-Sollen-Fehlschluss fehlt. Merkel meint also mit seinem Einwand, dass der Schluss, der dem Speziesargument zugrunde liegt, von der biologischen Beschaffenheit des Embryos, also dem Sein des Embryos, auf das Lebensrecht des Embryos, also auf das Sollen des Lebensschutzes des Embryos, ein Fehlschluss ist.

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