Abtreibung und das Recht auf Leben (4/5)

2.1.2 Entgegnung auf Merkels Einwand

Ich möchte nun Merkels Einwand entgegnen: Merkel versteht das Speziesargument falsch, weil dem Speziesargument kein Sein-Sollen-Fehlschluss zugrunde liegt, sondern der normative Anspruch der ersten Prämisse ergibt sich nicht, wie von Merkel verstanden, allein aus der biologischen Beschaffenheit des Embryos unter Hinzunahme des Prinzips der Gleichbehandlung, sondern aus dem normativen Anspruch der Würde. Da aus dem normativen Sollen der Würde ein normatives Sollen des Schutzgebotes folgt, liegt kein Sein-Sollen-Fehlschluss vor und das Speziesargument ist daher, besser verstanden, eine Ausformulierung der Menschenwürde und somit gültig.(97)

Ich möchte im Folgenden diese Entgegnung kurz begründen und erklären, indem ich im ersten Schritt nach einer kurzen Bemerkung den Begriff der Würde kläre, dann im zweiten Schritt auf den Beginn des Menschseins eingehe und im dritten Schritt ein besseres Verständnis des Speziesarguments darlege. Hier noch eine kurze Bemerkung: Wenn dem Speziesargument tatsächlich zugrunde liegen würde, dass der Schutz des Embryos allein aus der biologischen Beschaffenheit des Embryos unter Hinzunahme des Prinzips der Gleichbehandlung folgen würde, so wäre in der Tat das Speziesargument ungültig, wie Merkel das behauptet. Dem Speziesargument liegt aber Folgendes zugrunde: Das Speziesargument geht von dem unstrittigen Grundwert der Menschenwürde aus und leitet aus diesem durch das logische Prinzip der Spezialisierung(98) von der Würde aller Mitglieder der Spezies Mensch die Würde jedes Embryos ab, da ja jeder Embryo ein Mitglied der Spezies Mensch ist. Aus der Würde jedes Embryos folgt dann das Grundrecht jedes Embryos auf Leben.

Da das Speziesargument von dem Grundwert der Würde fundamental ausgeht, möchte ich im Folgenden mehrere Belege für diesen Grundwert anführen, welche diesen Grundwert klären und näher bestimmen: In der Universal Declaration of Human Rights heißt es zu Beginn: ,,Whereas recognition of the inherent dignity and of the equal and inalienable rights of all members of the human family is the foundation of freedom, justice and peace in the world,“.(99) Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte spricht hier also von der innewohnenden Würde, von der Gleichheit und von den unveräußerlichen Rechten aller Mitglieder der Familie der Menschen, anders gesagt: jedes Mitglieds der Spezies Mensch.

Das Bundesverfassungsgericht hat sich mehrfach zur Menschenwürde in verschiedenen Kontexten geäußert. Im Kontext einer Verfassungsbeschwerde schreibt das Bundes-verfassungsgericht, dass die Menschenwürde der oberste Wert des Grundgesetzes und tragendes Konstitutionsprinzip ist. Mit der Menschenwürde ist der soziale Wert und der Achtungsanspruch des Menschen verbunden. Jeder Mensch hat Menschenwürde, ohne Rücksicht auf die Eigenschaften des jeweiligen Menschen.(100)

Im Kontext des Schwangerschaftsabbruchs schreibt das Bundesverfassungsgericht, dass sich der Schutz des sich entwickelnden menschlichen Lebens aus den beiden ersten Artikeln des Grundgesetzes ableitet. Dort heißt es: ,,Die Würde des Menschen ist unantastbar.“(101) Das Deutsche Volk bekennt sich zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten. ,,Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“(102) Das Bundesverfassungsgericht schreibt weiter:

,,Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu; es ist nicht

entscheidend, ob der Träger sich dieser Würde bewußt ist und sie selbst zu wahren weiß. Die

von Anfang an im menschlichen Sein angelegten potentiellen Fähigkeiten genügen, um die

Menschenwürde zu begründen.“(103)

Das Bundesverfassungsgericht begründet hier also analog zum Speziesargument, dass der Embryo Menschenwürde hat, und aus der Menschenwürde das Recht auf Leben und aus dem Recht auf Leben der Schutz des Lebens folgt.(104)

Im Kontext einer weiteren Verfassungsbeschwerde schreibt das Bundesverfassungsgericht, dass die Menschenwürde eine ,,Würde des Menschen als Gattungswesen“ ist, und so nicht nur der individuellen Person dieser Gattung. Jedes Mitglied der Gattung hat Menschenwürde, auch diejenigen, die aufgrund ihres geistigen oder körperlichen Zustandes nicht sinnvoll handeln können.(105) Mit anderen Worten sagt hier das Bundesverfassungsgericht, dass die Spezies Mensch Menschenwürde hat, was dem ersten Teil der ersten Prämisse des Speziesarguments entspricht.

Im Kontext eines Leitsatzes formuliert das Bundesverfassungsgericht, dass die Würde keinem Menschen genommen werden kann, und dass nur der Achtungsanspruch verletzbar ist, nicht aber die Würde selbst. Die Unverletzbarkeit der Menschenwürde ist auch unabhängig ,,von der voraussichtlichen Dauer des individuellen menschlichen Lebens“.(106)

Ich fasse kurz zusammen: Das deutsche und zum größten Teil internationale Verständnis der Menschenwürde ist, dass Menschenwürde ein Wert ist, der jedem Menschen unabhängig von seinen weiteren Eigenschaften unverletzbar innewohnt, und aus welchem Grundrechte folgen, darunter das Recht auf Leben. In Deutschland ist die Menschenwürde der oberste Wert des Grundgesetzes und als Konstitutionsprinzip hat die Menschenwürde ,,eine strukturbildende Funktion für die Rechtsordnung der Bundesrepublik“.(107) Der Mensch hat als Gattungswesen Menschenwürde und Menschenwürde ist so jedem Mitglied der Gattung zu eigen, egal welchen Alters oder Entwicklungsstufe. Allein der Achtungsanspruch, der aus der Menschenwürde folgt, ist verletzbar, die Würde selbst nicht. Die Bundeszentrale für politische Bildung formuliert zusammen-fassend: ,,Wenn etwas immer einen Wert hat, sagt man: Es hat eine Würde. Jeder Mensch hat eine Würde. Menschenwürde bedeutet, dass jeder Mensch wertvoll ist, weil er ein Mensch ist.“(108) Damit sollte klar sein, von was das Speziesargument mit dem Begriff der Würde in der ersten Prämisse ausgeht.

2.1.3 Der Begriff ,,Embryo“ und der Beginn des Menschseins

Ich möchte nun kurz auf den Beginn des Menschseins eingehen, aber zuvor ist dafür noch kurz der Begriff ,,Embryo“ zu klären. Das Speziesargument verwendet ,,Embryo“. Was ist mit ,,Embryo“ gemeint? Das Wort ,,Embryo“ kommt von dem griechischen Wort für Leibesfrucht.(109) Es gibt biologisch zwei Verständnisse von ,,Embryo“, ein Verständnis im weiteren und eines im engeren Sinne. Im weiteren Sinne verstanden bezeichnet ,,Embryo“ die menschliche Frucht vor der Geburt, also von der Befruchtung bis zur Geburt etwa 270 Tage später. Im engeren Sinne verstanden bezeichnet ,,Embryo“ die menschliche Frucht während der Zeit der Organentwicklung, der sogenannten Organogenese, also meist bis zum Ende des 3. Schwangerschaftsmonats. Ab dem 4. Schwangerschaftsmonat wird die menschliche Frucht dann bis zur Geburt ,,Fetus“ genannt, was lateinisch ,,Leibesfrucht“ meint.(110) Die menschliche Frucht wird in ihrer Entwicklung nach der Befruchtung weiter unterteilt in Zygote und Blastocyste.(111) ,,Zygote“ bezeichnet die befruchtete Eizelle ab der Befruchtung. Aus der Zygote entwickelt sich dann die Blastocyste, welche einen Hohlraum bildet, und sich etwa acht bis zehn Tage nach der Befruchtung in die Gebärmutter einnistet.(112) ,,Embryo“ wird im Speziesargument und gewöhnlich in der Abtreibungsdebatte sowie in dieser Masterarbeit in der Regel im weiten Sinne verstanden, also im Sinne eines ungeborenen Kindes bis hin zur Geburt.(113)

Wann beginnt also das Menschsein? Ist ein Embryo ein Mensch? In Kürze: Das Menschsein beginnt mit der Befruchtung. Ja, ein Embryo ist ein Mensch. Diese Antworten sind wissenschaftlich unstrittig, daher gebe ich hier nur kurz ein Zitat von dem liberalen David Boonin wieder, der mehrere prominente Wissenschaftler zitiert:

„‘The fact that after fertilization has taken place, a new human has come into being, is no

longer a matter of taste or of opinion. The human nature of the human being from conception to old age is not a metaphysical contention, it is plain experimental evidence.’

‘In biology and in medicine, it is an accepted fact that the life of any individual organism

reproducing by sexual reproduction begins at conception (fertilization).’“(114)

Auch der extrem liberale Peter Singer stimmt diesen Fakten zu:

,,It is possible to give ‘human being’ a precise meaning. We can use it as equivalent to

‘member of the species Homo sapiens’. Whether a being is a member of a given species is

something that can be determined scientifically by an examination of the nature of the

chromosomes in the cells of living organisms. In this sense there is no doubt that from the

first moments of its existence, an embryo conceived from human sperm and eggs is a human

being;“(115)

Beide Zitate belegen, dass das Menschsein mit der Befruchtung beginnt, und dass ein Embryo ein Mensch ist.

2.1.4 Ein besseres Verständnis des Speziesarguments

Ich habe weiter oben zentrale Inhalte für ein besseres Verständnis des Speziesarguments geklärt, nämlich die Begriffe ,,Würde“, ,,Embryo“ und den Beginn des Menschseins. Ich will nun diese Inhalte gebrauchen, um ein besseres Verständnis des Speziesarguments darzulegen und so meine Entgegnung auf Merkels Einwand begründen. Um dies zu tun, werden ich im Folgenden auf die zwei Prämissen des Speziesarguments gesondert eingehen, beginnend mit der ersten Prämisse.

Die erste Prämisse lässt sich in drei Komponenten aufgliedern, auf die ich im Einzelnen kurz eingehen werde. Die drei Komponenten lauten:

1. Jedes Mitglied der Spezies Mensch hat Würde.

2. Würde ist ein dem Menschen innewohnender Wert, der Achtung gebietet.

3. Aus der Würde beziehungsweise aus der Achtung folgt das Recht auf Leben.

Die erste Komponente ist in anderen Worten mit dem Grundgedanken der Menschenwürde identisch: Alle Menschen haben Würde. Wie Singer oben sagte, ist ,,Mensch“ gleichbedeutend mit ,,Mitglied der Spezies Homo sapiens“, also gleichbedeutend mit ,,Mitglied der Spezies Mensch“.

Die zweite Komponente ist eine Kurzfassung der wesentlichen Inhalte des anerkannten Verständnisses der Menschenwürde, die ich weiter oben angeführt habe. Zum einen wohnt dem Menschen ein absoluter Wert inne, der ihm nicht genommen werden kann. Zum anderen gebietet dieser Wert Achtung vor diesem Wert und somit Achtung vor dem Menschen selbst. Die normative Achtung folgt also aus dem normativen Wert des Menschen, aus der Würde des Menschen.

Die dritte Komponente macht klar, dass aus der Würde und der damit verbundenen Achtung folgt, dass der Mensch ein Recht auf Leben hat, in das kein anderer Menschen (ohne moralisch gerechtfertigten Grund) eingreifen darf. Wer den Menschen achtet, der schützt das Leben des Menschen. Alle drei Komponenten der ersten Prämisse folgen also aus den grundlegenden Inhalten der Menschenwürde, somit ist die erste Prämisse eine Ausformulierung der Menschenwürde und folgt so aus der Menschenwürde.

Die zweite Prämisse ergibt sich nun aus dem unstrittigen Sachverhalt, dass jeder Embryo ein Menschen ist, und so ein Mitglied der Spezies Mensch ist. Ich bin oben auf den Begriff ,,Embryo“ und auf den Beginn des Menschseins eingegangen, was der zweiten Prämisse zugrunde liegt. Die Konklusion des Speziesarguments folgt dann der logischen Spezialisierung der ersten Prämisse auf die embryonalen Mitglieder der Spezies Mensch. Nach diesem Verständnis liegt  also dem Speziesargument kein Sein-Sollen-Fehlschluss zugrunde und das Speziesargument leitet das Recht auf Leben eines jeden Embryos aus der Menschenwürde ab.(116) Ich komme nun im zweiten Teil zu einem erneuten Einwand.

2.2 Ein erneuter Einwand mit der Grundlage der Menschenwürde

Merkel könnte nun erneut wie folgt einwenden: Selbst wenn das Speziesargument so zu verstehen wäre, dass es eine Ausformulierung der Menschenwürde ist, könnte immer noch ein Sein-Sollen-Fehlschluss vorliegen, wenn sich die Menschenwürde allein auf der biologischen Beschaffenheit jedes Embryos gründet, und so das Speziesargument indirekt durch die Voraussetzung der Menschenwürde scheitern. Es ist also entscheidend zu klären, worauf sich die Menschenwürde genau gründet, weil mit der Grundlage der Menschenwürde das Speziesargument steht oder fällt.   

Ich will nun diesem Einwand entgegnen, indem ich zuerst zwei kurze Bemerkungen dazu mache und dann näher auf die Grundlage der Menschenwürde eingehe. Zuerst also zu den zwei Bemerkungen: Zum einen wäre für diesen Einwand zunächst zu zeigen, dass die biologische Beschaffenheit allein die Grundlage für die Menschenwürde darstellt, was nicht gezeigt ist, und ferner Formulierungen der Menschenwürde, wie wir gleich sehen werden, widerspricht.

Zum anderen richtet sich der Einwand gegen den unstrittigen Wert der Menschenwürde selbst, der sowohl von der konservativen als auch von der liberalen Position zur Abtreibung größtenteils geteilt wird. Selbst bei der Mehrheit von Vertretern der liberalen Position ist es unstrittig (abgesehen von wenigen extremen Ausnahmen),(117) dass der Säugling spätestens ab der Geburt Menschenwürde hat.

2.2.1 Die Grundlage der Menschenwürde

Ich will im Folgenden auf die Grundlage der Menschenwürde näher eingehen. Es gibt verschiedene Positionen zur Grundlage der Menschenwürde. Zum Beispiel vertritt Henning Ritter die Position, dass die Menschenwürde nicht näher bestimmt werden kann und sollte, und sich so die genaue Grundlage der Menschenwürde nicht bestimmen lässt. Ritter meint unter Verweis auf Pascal, dass es Dinge gibt, ,,die man nicht definieren kann, ohne sie zu verdunkeln.“(118) Nach Ritter ist so ein Ding die Menschenwürde, weil alle Versuche einer näheren Festlegung der Menschenwürde auf bestimmte menschliche Eigenschaften zu einer Ausgrenzung der Menschen führen würde, welche diese Eigenschaften nicht besitzen, und daher stehen solche Versuche dem eigentlichen Sinn der Menschenwürde entgegen, weil alle Menschen die Menschenwürde haben. Wenn Ritter recht hat, dann ist die Menschenwürde einem dogmatischen Schlusspunkt in der Begründung zu vergleichen, der nicht weiter hinterfragt werden kann. Für diejenigen, die nach der Grundlage der Menschenwürde fragen, ist diese Antwort jedoch unbefriedigend. Ein Verweis auf das sogenannte Münchhausen-Trilemma, nach dem jede weitere Begründung irgendwann entweder auf einen unendlichen Regress oder einen Zirkelschluss oder eben auf eine dogmatische Annahme hinausläuft, ist hier nur ein schwacher Trost.(119) Nach Ritters Position lässt sich jedenfalls die Menschenwürde nicht weiter begründen und so fehlt es dem Einwand an der notwendigen Grundlage.     

Eine weitere Position vertritt das Bundesverfassungsgericht, das sich in verschiedenen Kontexten zu der Grundlage der Menschenwürde geäußert hat. Zum einen betont das Bundesverfassungsgericht in einem Verfahren zu einer Verfassungsbeschwerde, dass jedem Menschen ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften die Menschenwürde zu eigen ist, was man so verstehen kann, dass der Mensch an sich ungeachtet seiner biologischen Eigenschaften, also in jeder Entwicklungsstufe seiner Entwicklung, von seinem Anfang bis zu seinem Ende, Menschenwürde besitzt.(120)

Zum anderen sagt das Bundesverfassungsgericht im Kontext des Schwangerschafts-abbruchs, dass die ,,im menschlichen Sein angelegten potentiellen Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde zu begründen.“(121) Das hört sich beim ersten Vernehmen wie ein Sein-Sollen-Fehlschluss an, aber dagegen spricht einerseits, dass das Bundesverfassungsgericht im nahen Kontext des Absatzes 122 von der Norm der ersten beiden Artikel des Grundgesetzes ausgehend dem menschlichen Leben Menschenwürde zukommend zuschreibt. Für die Zuschreibung der Menschenwürde nach dem Grundgesetz genügen also schon die potentiellen Fähigkeiten des Menschen und ein Bewußtsein oder Erkennen des Menschen ist hierfür nicht voraussetzend notwendig.(122) Die potentiellen Fähigkeiten begründen also die Zuschreibung der Menschenwürde durch die Norm des Grundgesetzes und nicht im Sinne eines Sein-Sollen-Fehlschlusses die Menschenwürde.

Andererseits könnte sich das Bundesverfassungsgericht in seiner Formulierung hier an das sogenannte Potentialitätsargument anlehnen, welches die Würde des Embryos durch dessen Potential zu begründen sucht, und wie folgt lautet:

          1. Jedes Wesen, das potentiell ϕ ist, hat Menschenwürde.

          2. Jeder menschliche Embryo ist ein Wesen, das potentiell ϕ ist.

Also: 3. Jeder menschliche Embryo hat Menschenwürde.(123)   

Die Formulierung ,,potentielle Fähigkeiten“ könnte also im Sinne von ,,Wesen, das potentiell ϕ ist“ gemeint sein und in diesem Verständnis durch das Potentialitätsargument die Menschenwürde des Embryos begründen. Auch mit dieser Interpretation ist also kein Sein-Sollen-Fehlschluss gegeben.     

Wieder zum anderen äußert sich das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang des Schwangerschaftsabbruchs, dass das menschliche Leben einen Höchstwert in der grundgesetzlichen Ordnung darstellt, und das menschliche Leben ist weiter ,,die vitale Basis der Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte.“(124) Demnach ist also das menschliche Leben die Grundlage der Menschenwürde.

Was ist aber menschliches Leben? Was ist Leben? Das Problem ist, dass selbst die Wissenschaft diese Fragen nicht genau beantworten kann, trotz zahlreicher Versuche und pragmatischem Eigeninteresse, etwa in der Biologie oder der NASA.(125) Die Philosophin Carol Cleland und der Planetenforscher Christopher Chyba bewerten den wissenschaftlichen Kenntnisstand des Lebens so, dass Wissenschaftler im frühen 21. Jahrhundert nicht in der Lage sind, das Leben zu definieren.(126) Robert Hazen meint, dass jeder Versuch einer klaren Unterscheidung zwischen Lebendigen und Nicht-Lebendigen nur eine falsche Zweiteilung liefert.(127) Hazen zitiert den Chemiker Noam Lahav, der mehrere Versuche einer Lebensdefinition von 48 Experten in seinem Buch Biogenesis, Theories of Life’s Origin zusammengetragen hat.(128) Hazen meint, dass sich keine der vielen Definitionen völlig gleicht. Es gibt also unter Wissenschaftlern keinen einheitlichen Konsens für eine genaue Definition des Lebens und des menschlichen Lebens. Daher fehlt es auch aus Sicht des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes dem Einwand an einer notwendigen Voraussetzung, weil sich das menschliche Leben, das nach dem Bundesverfassungsgericht die Grundlage der Menschenwürde darstellt, nicht genau bestimmen lässt. Der Einwand ist damit nach aktuellem Erkenntnisstand ausgeräumt.

2.3 Der Sein-Sollen-Fehlschluss bei liberalen Positionen

Ich will nun den Abschnitt über den Einwand mit dem Sein-Sollen-Fehlschluss abschließen, indem ich auf ein Hauptproblem der liberalen Position mit dem Sein-Sollen-Fehlschluss hinweise. Hierfür fasse ich zuerst die liberalen Positionen grob zusammen: Den liberalen Positionen ist gemein, dass der junge Mensch in seiner Entwicklung von der Befruchtung bis zu einem gewissen Zeitpunkt, den ich hier Zeitpunkt t0 nennen will, in moralisch relevanter Hinsicht keinen Wert hat, und deswegen getötet werden darf. Nach dem Zeitpunkt t0 hat der junge Mensch in moralisch relevanter Hinsicht Wert und darf so nicht getötet werden.

Das Hauptproblem für die liberalen Positionen ist einerseits zu zeigen, dass der junge Mensch bis zum Zeitpunkt t0 diesen Wert nicht hat, und andererseits zu zeigen, dass und warum der junge Mensch ab dem Zeitpunkt t0 diesen Wert hat, der mit dem Wert eines Erwachsenen vergleichbar ist. Vertreter der liberalen Position konnten bis jetzt das Hauptproblem nicht überzeugend lösen.

Es gibt nun mehrere liberale Positionen, die jeweils verschiedene Stufen in der Entwicklung des jungen Menschen für den Zeitpunkt t0 relevant halten, etwa die menschliche Erscheinung des Embryos, den Herzschlag, die Bewegung des Embryos, die Gehirnaktivität, die kognitiven Fähigkeiten, die Schmerzempfindlichkeit, die Lebensfähigkeit und die Geburt.

Wer nun allein auf dem Erreichen einer der genannten Entwicklungsstufen und der damit verbundenen biologischen Beschaffenheit des jungen Menschen den genannten Wert gründet, begeht einen Sein-Sollen-Fehlschluss. Mit dem Sein-Sollen-Fehlschluss verschärft sich also das Hauptproblem für Vertreter der liberalen Position, weil der gesuchte Wert sich nicht allein an die biologische Entwicklung des jungen Menschen binden lässt.

Vertreter der liberalen Position können nun versuchen dieses verschärfte Hauptproblem zu lösen, indem sie eine Norm nennen und begründen, die den Wert ab dem Zeitpunkt t0 rechtfertigt, oder sie schreiben dem jungen Menschen ab dem Zeitpunkt t0 wertstiftende metaphysische Eigenschaften zu. Beide Lösungsansätze erscheinen nicht sehr vielversprechend zu sein.   

IV. Epilog

Zum Schluss dieser Masterarbeit möchte ich die zentralen Gedanken kurz zusammenfassen. Die Sonderfälle der Abtreibung sind Abtreibungen im Zusammenhang mit einer Erkrankung des Kindes, Inzest, sexuellem Missbrauch und unter Lebensgefahr für die Schwangere, wobei der letzte Sonderfall der einzige Fall ist, in dem Abtreibung moralisch gerechtfertigt ist. Die Unterschiede, welche die restlichen Sonderfälle von einer Abtreibung unter gewöhnlichen Umständen unterscheiden, rechtfertigen nicht eine Abtreibung. Nach den zwei genannten Argumenten ist eine Abtreibung in den restlichen Sonderfällen ebenfalls unmoralisch und so zu unterlassen. Etwa selbst bei einer Vergewaltigung einer Frau hat die Vergewaltigte bessere Optionen, als das ungeborene Kind zu töten.

Das Tötungsverbot-Argument basiert auf dem anerkannten Grundsatz, dass im Normalfall ein Mensch einen anderen Menschen nicht töten darf, und dass bei einer Abtreibung eben dies geschieht, weshalb eine Abtreibung unmoralisch ist. Das Tötungsverbot-Argument lässt sich mit verschiedenen philosophischen Traditionen rechtfertigen, darunter der wichtige moralische Grundsatz ,,Verletze niemand!“. Singers Einwand gegen das zentrale Argument, das dem Tötungsverbot-Argument sehr ähnlich ist, beruht in zwei Teilen auf den zwei Bedeutungen des Begriffs ,,Mensch“ mit ,,Mitglied der Spezies Homo sapiens“ und ,,Mensch” als ,,Person”, womit nach Singer mit diesen zwei Bedeutungen das zentrale Argument scheitert. Ich bin Singers Einwand in seinen zwei Teilen entgegnet. Was den ersten Teil seines Einwands betrifft, habe ich aufgezeigt, dass der Sprachgebrauch im Englischen, Deutschen und in der Philosophie Bedeutungen des Begriffs ,,Person“ enthält, die Singers Einwand widerlegen und es Singers Einwand so an einer weiteren Begründung seiner Auswahl der Bedeutung des Begriffs ,,Person“ mangelt. Der Begriff ,,Person“ ist so nicht geeignet, um die Wahrheit der zweiten Prämisse zu bestimmen, wie Singer dies tut, und dieser Teil des Einwands ist so widerlegt. Was den zweiten Teil seines Einwands betrifft, geht Singer fälschlicherweise davon aus, dass sich die erste Prämisse allein durch die Zugehörigkeit eines Menschen zur Spezies Homo sapiens rechtfertigt. Die erste Prämisse wird aber nicht allein durch die Zugehörigkeit eines Menschen zur Spezies Homo sapiens gerechtfertigt, sondern in Kombination mit den jeweiligen moralischen Prinzipien der jeweiligen philosophischen Tradition, womit auch der zweite Teil seines Einwands widerlegt ist. Weiter bin ich auf eine Argumentation eingegangen, für die Singer und weitere Vertreter einstehen, nämlich dass ein ungeborenes Kind getötet werden darf, weil das ungeborene Kind keine Person nach gewissen Kriterien des Personseins ist. Francis J. Beckwith hat diese Argumentation mit vier Entgegnungen widerlegt. Erstens könnte eine Abtreibung auch moralisch falsch sein, wenn das ungeborene Kind keine Person wäre. Zweitens ist das, was das Töten eines Menschen moralisch falsch macht, nämlich das Berauben eines zukünftigen Menschenlebens, ebenfalls bei der Abtreibung gegeben, was eine Abtreibung unmoralisch macht, unabhängig vom Status als Person oder Nicht-Person des ungeborenen Kindes. Drittens verwechselt diese Argumentation die Funktionen eines Wesens mit dem Sein eines Wesens. Viertens geht das Sein einer Person den Funktionen einer Person voraus, daher können die Funktionen nicht notwendige Bedingungen für das Sein einer Person sein.

Das Menschenwürde-Argument basiert auf dem anerkannten Begriff der Menschenwürde, dass also jeder Mensch Würde hat und deswegen nicht getötet werden darf. Da ein ungeborenes Kind ebenfalls ein Mensch ist und so Würde hat, darf das ungeborene Kind durch eine Abtreibung nicht getötet werden. Das Menschenwürde-Argument ist eine ausführliche Formulierung des Speziesarguments, gegen das Reinhard Merkel den Einwand vorbringt, dass das Speziesargument auf einem Sein-Sollen-Fehlschluss von der biologischen Beschaffenheit des Embryos auf dessen Lebensrecht beruht. Ich bin Merkels Einwand entgegnet, indem ich gezeigt habe, dass der normative Anspruch des Speziesarguments aus dem Begriff der Menschenwürde folgt, und so kein Sein-Sollen-Fehlschluss vorliegt. Nach dem Begriff der Menschenwürde haben alle Menschen Würde und da ein Embryo ein Mensch ist, folgt durch logische Spezialisierung, dass ein Embryo ebenfalls Menschenwürde hat und so ein Recht auf Leben hat und so nicht abgetrieben werden darf. Ein erneuter Einwand richtet sich auf die Grundlage der Menschenwürde. Die Grundlage der Menschenwürde ist nach dem erneuten Einwand eine biologische Beschaffenheit und daher liegt doch ein Sein-Sollen-Fehlschluss vor. Ich bin diesem Einwand entgegnet, indem ich mehrere Positionen zur Grundlage der Menschenwürde genannt habe, die nicht allein auf der biologischen Beschaffenheit beruhen. Henning Ritter vertritt die Position, dass die Menschenwürde ein dogmatischer Schlusspunkt ist, der nicht näher bestimmt werden kann. Das Bundesverfassungsgericht vertritt mehrere Positionen, darunter potentielle Fähigkeiten und menschliches Leben als Grundlage der Menschenwürde, wobei mit beiden Positionen nicht der im Einwand behauptete Sein-Sollen-Fehlschluss durch die Grundlage gegeben ist. Ein Sein-Sollen-Fehlschluss ist jedoch bei liberalen Positionen gegeben, die den Wert eines Kindes mit dessen biologischer Entwicklungsstufe verbinden.

Was folgt aus dem Gesagten? Nach dieser Masterarbeit ist Abtreibung im Normalfall unmoralisch und so zu unterlassen. Wie Reinhard Merkel richtig anmerkt, stehen die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts mit der Gesetzgebung der Regierung im offenen Selbstwiderspruch, da zum Beispiel das Bundesverfassungsgericht Abtreibung als Unrecht bezeichnet, das rechtlich zu verbieten ist, und die Regierung Gesetze erlässt, welche dieses Unrecht flächendeckend ermöglichen sollen.(129) Die deutsche Regierung sollte diesen Selbstwiderspruch aufheben und konsequent nach den Werten des Grundgesetzes Gesetze erlassen, welche die zahlreichen Leben der unschuldigsten Menschen schützen, und so die unmoralischen Tötungen durch Abtreibung verhindern, wie das etwa in mehreren Bundesstaaten der USA sowie in mehreren Ländern Nordamerikas, Südamerikas und Afrikas der Fall ist. Menschen aller Länder sollten sich, selbst in Ländern, wo Abtreibung juristisch legal oder straffrei ist, bei einer Schwangerschaft gegen eine Abtreibung und für das Leben des Kindes entscheiden.

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